Demokratien und ihr Sitz im Leben: Der Arbeitsbereich Alte Geschichte der Universität Hamburg beschäftigt sich auf mehreren Ebenen damit, wie politisches Leben in einer Demokratie gestaltet werden kann.
Hervorzuheben ist zunächst, dass Prof. Dr. Kaja Harter-Uibopuu und Prof. Dr. Werner Rieß Experten für die erste europäische Demokratie im klassischen Athen (508/7-322 v. Chr.) sind. Sowohl in ihren Qualifikationsarbeiten als auch in ihren weiteren Forschungen haben sich beide intensiv mit dem Phänomen der athenischen Demokratie ausei-nandergesetzt.
Darüber hinaus ist es ein großes Anliegen des Arbeitsbereiches, die Spezifika der athenischen Demokratie in der Öffentlichkeit zu vermitteln und bei verschiedenen Zielgruppen eine verstärkte Reflexion unserer demokratischen Staatsform anzuregen. Zentrales Lern- und Lehrinstrument dafür stellt das eManual Alte Geschichte dar, eine online frei verfügbare Lernplattform, auf der Podcasts, Quellen, Sekundärliteratur und viele weitere Materialien zur Geschichte der Antike zu finden sind, unter anderem zur athenischen Demokratie.
Geschichte wird am Arbeitsbereich auch auf eine weitere Weise lebendig: Hier gibt es den Nachbau eines antiken „Kleroterion“, einer Wahlmaschine, mit der unter anderem die Richter im vierten Jahrhundert gelost wurden. In öffentlichen Workshops kann in einem „Hands-on“-Seminar eine Richterlosung simuliert werden. Daneben führt der Arbeitsbereich in jedem Wintersemester zweitägige Schulprojekte mit ausgewählten Schulen Hamburgs durch – Schülerinnen und Schüler erhalten hier bei einem Besuch in der Universität die Chance, bei einem Einblick in die athenische und griechische Geschichte über Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der athenischen und den modernen Demokratien nachzudenken und zur eigenen Partizipation in unserer Demokratie zu nutzen.
Vgl. zum antiken Original https://emanualaltegeschichte.blogs.uni-hamburg.de/kleroterion-losmaschine-von-der-agora-in-athen/
Bild-Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:%C3%9Cberseering_35_(Hamburg-Winterhude).18.22057.ajb.jpg
(Anker, CC BY-SA 3.0)
Die Genese der attischen Demokratie im Altertum
Von Prof. Dr. Werner Rieß und Jan Seehusen, Universität Hamburg
Die heutige Staatsform, in der wir leben, wird als Demokratie, also eine Herrschaft des Volkes, bezeichnet (Altgr. démos = Volk, krátos = Macht). Wie kam es zur Entstehung der Demokratie und welches Gemeinwesen kann als erste Demokratie bezeichnet werden? Die folgenden Bemerkungen widmen sich dem Phänomen der attischen Demokratie in der Antike, besonderen Schwerpunkten und Verfahren innerhalb dieser Staatsform sowie den Unterschieden zu modernen Demokratien.
Althistoriker wie Jochen Bleicken, dessen Forschungsschwerpunkte unter anderem in der attischen Demokratie liegen, grenzen das Existieren der attischen Demokratie als Staatsform in die Jahre 508/7-322 v. Chr ein. Griechenland war während der Antike nicht als Gesamtstaat organisiert, sondern bestand aus unzähligen Stadtstaaten (pólis, Pl. póleis), neben Athen waren dies z.B. Theben, Sparta oder Korinth, wobei wir über Athen aufgrund der guten Quellenlage am besten informiert sind. In der attischen Demokratie formiert sich das politische Leben in der Polis Athen. Zum politischen Raum im engeren Sinne zählte man dazu die Stadt Athen sowie die dazugehörige Halbinsel, Attika. Daher erklärt sich auch die Bezeichnung „attische Demokratie“.
Der erste Reformer, der den Weg in die attische Demokratie bahnte, war Kleisthenes. Der Staatsmann teilte am Ende des sechsten Jahrhunderts v. Chr. die Polis Athen in zehn Unterbezirke ein, die sogenannten Phylen. Aus diesen Bezirken wurden zukünftig je 50 Bürger abgesandt, die im Rat der 500 (boulḗ) mitentschieden, einem wichtigen Gremium der attischen Demokratie. Die Reform des Kleisthenes gilt als wichtige Voraussetzung, damit die attische Demokratie sich entfalten konnte, da erstmals die gesamte Bürgerschaft, nicht nur der Aristokratie, am politischen Leben beteiligt wurde. Nicht alle Bewohner Athens waren indes als Bürger zu bezeichnen – Frauen, Sklaven und Fremde besaßen kein Bürgerrecht.
In den folgenden Jahrzehnten wurden weitere wichtige Reformen durchgeführt, die das demokratische Leben in Athen festigen sollten. So baute Athen im Verlauf der Perserkriege etwa ab 490 v. Chr. seinen Kriegshafen aus, den Piräus, und war mit seiner gewaltigen Kriegsflotte in der Lage, entscheidende Siege gegen die Perser zu erringen. Für die Entwicklung der Demokratie ist entscheidend, dass zur Bemannung der Trieren Ruderer benötigt wurden. Die Ruderer rekrutierten sich nun aus der ärmeren Bevölkerung Athens. Erstmals wurden so viel weitere Kreise in den Kriegsdienst einbezogen, als es vorher der Fall war. Durch das Flottenbauprogramm traten die Ruderer damit auch in den Gremien der attischen Demokratie stärker in Erscheinung. Denn beides – Kriegsdienst und politische Mitbestimmung – stand in Athen in einem Zusammenhang, wie bereits vorher bei den wohlhabenderen Bürgern, die als Hopliten im Landheer kämpften.
Eine weitere wichtige Entwicklung stellt der Ostrakismos dar, das sogenannte Scherbengericht, das sich zu dieser Zeit konstituierte. Die Athener wollten vermeiden, dass sich zu viel Macht in den Händen einzelner Aristokraten konzentrierte, wie es vor Kleisthenes oft der Fall war. So gingen sie daran, jedes Jahr in einer Volksversammlung abzustimmen, ob jemand nach der Alleinherrschaft (tyrannís) zu streben schien und aus Athen verbannt werden solle. Fiel diese Entscheidung positiv aus, ritzten die Athener in einer späteren Versammlung auf eine Keramikscherbe (óstrakon) den Namen desjenigen Aristokraten ein, der ihnen am meisten danach zu trachten schien. Derjenige, auf den die meisten Scherben entfielen, ging zehn Jahre in die Verbannung, ohne allerdings sein Ansehen oder Vermögen einzubüßen.
Wie kam es zu Beschlüssen innerhalb der attischen Demokratie? Werfen wir einen Blick auf die politischen Institutionen: Im bereits erwähnten Rat der 500 wurden Beschlussvorlagen gesammelt, die er der Volksversammlung zur Abstimmung vorlegte. Sobald die Volksversammlung dann positiv darüber entschied, erhielten sie Gesetzeskraft. In der Volksversammlung konnten alle Athener, also Männer über 18 Jahren, die nicht Sklaven oder Fremde waren, das politische Leben direkt mitbestimmen. Sie war damit das Abbild aller Bürger der Polis. Damit die Volksversammlung beschlussfähig war, benötigte man ein Quorum von 6000 Stimmen. Aktuelle außenpolitische Anlässe, wie zum Beispiel militärische Strategien, die etwa in Zeiten des Peloponnesischen Kriegs von großer Bedeutung waren, wurden hier verhandelt. In besonderen Fällen konnte die Volksversammlung auch als Richter auftreten und urteilen.
Entscheidend für die attische Demokratie sind neben der Volksversammlung die Gerichte. 6000 Athener konnten zu Höchstzeiten in den Gerichten als Geschworene tätig werden. Sie wurden im fünften Jahrhundert v. Chr. für jeweils ein Jahr gleichmäßig aus den zehn Phylen, die auf die Reform des Kleisthenes zurückgingen, ausgelost. In der Anfangszeit wurden die 6000 Richter jeweils für ein Jahr fest auf die zehn Gerichtshöfe verteilt, urteilten also ein Jahr lang immer über eine Gruppe von Prozessen, beispielsweise in Erbangelegenheiten. Im vierten Jahrhundert wurde an jedem Gerichtstag in einem ersten Schritt gelost, wer Richter werden sollte und in weiteren Schritten gelost, in welchen Gerichtshöfen und in welchen Funktionen die Richter tätig werden sollten. Hierzu diente das Kleroterion, eine antike Losmaschine, von welcher der Arbeitsbereich Alte Geschichte der Universität Hamburg einen Nachbau besitzt, der regelmäßig bei öffentlichen Veranstaltungen in „Hands-on“-Sessions eingesetzt wird.
Wie unterscheidet sich das politische Leben in der attischen Demokratie von unserem heutigen Demokratieverständnis? Sieht man von den völlig veränderten Rahmenbedingungen ab, die etwa die Größe einer Polis im Vergleich zu einem föderalistischen Bundesstaat wie der Bundesrepublik Deutschland mit sich bringen, ist die Direktheit zu betonen, mit der die Bürger aus Athen das politische Leben mitbestimmten – besonders auffällig ist dabei, dass sich die attische Demokratie im Verlauf verschiedener Kriege weiterentwickelte (z.B. Perserkriege), die Demokratie also gewissermaßen im Krieg verankert war. Durch diesen direkten Zugriff auf die Bürger unterscheidet sich die attische Demokratie von unserer repräsentativen Demokratie.
Am Beispiel der athenischen Gerichte wurde bereits ein weiterer Unterschied deutlich: Bei vielen politischen Angelegenheiten und sogar bei der Einsetzung von Magistraten der attischen Demokratie diente das Los als Entscheidungsprinzip. Dem sind die verschiedenen Wahlmechanismen der Gegenwart gegenüberzustellen. Das Wahlrecht besitzen heute alle Frauen und Männer, unabhängig von ihrem sozialen Status, während in Athen Frauen davon ausgeschlossen waren.
Zwei weitere wichtige Unterschiede müssen abschließend benannt werden: Im Gegensatz zu heutigen Demokratien sind die Gewalten in Athen nicht streng getrennt, ebenso gibt es in der Judikative keine ausgebildeten Fach- und Berufsjuristen; „Laienrichter“ urteilen über verschiedene Fälle. Eine andere Rolle spielt die Rhetorik: Dass etwa ein „Berufspolitiker“ die Volksversammlung beeinflussen konnte, indem er seine rhetorischen Fähigkeiten nutzte, die nicht jeder Bürger besaß, gehörte zu einer der Schwächen, welche die attische Demokratie in ihrer durchaus vorbildhaften direkten Beteiligung vieler Bürger am politischen Leben offensichtlich besaß.